Selbsthilfeinitiative nimmt veränderten Unterstützungsbedarf nach der Corona-Pandemie wahr

“Viele Betroffene wünschen sich lediglich Beratung, alternativ werden Online-Treffen bevorzugt”

Die Selbsthilfeinitiative zu Zwängen, Phobien und Depressionen im Landkreis Konstanz nimmt durch die Pandemie ein verändertes Bedürfnis von Betroffenen psychischer Erkrankungen wahr, sich entgegen der früheren Tradition des Selbsthilfewesens nicht mehr in persönlichen Gruppen zu treffen und in Erfahrungsaustausch zu treten, sondern sich über Online-Meetings über die eigene Erkrankung zu unterhalten oder lediglich eine Einzelberatung bei den Selbsthilfeaktiven einzuholen – die, wie auch Dennis Riehle als Leiter der Initiative, meist über eine jahrelange Biografie mit der eigenen seelischen Störung verfügen und gerade neu Diagnostizierten wichtige Fragen beantworten können: „Und besonders von diesen frisch erkrankten Menschen gibt es in der Region eine ganze Reihe, weil die Lockdown-Politik ihre Spuren hinterlassen hat!“, erklärt der 37-Jährige, der auf 24 Jahren an Krankheitsgeschichte zurückblicken kann. „Selbsthilfe steht – wie die Gesellschaft im Allgemeinen – derzeit in einem Wandel“.

Inwieweit sich diese Veränderungen positiv oder negativ auf den ursprünglichen Gedanken, unter seines- und ihresgleichen über Probleme und besondere Lebenslagen von Angesicht zu Angesicht in Kontakt zu kommen, vermag Riehle nicht zu bewerten: „Digitale Gruppentreffen haben ihre Vor- und Nachteile. Eine Moderation gelingt deutlich schwieriger, wenn viele Menschen lediglich über einen Bildschirm miteinander verbunden sind und sich Regeln des respektvollen Umgangs miteinander nur sehr beschränkt umsetzen lassen“, meint der Konstanzer, der über 10 Jahre mehrere Selbsthilfegruppen angeleitet hat und sich heute dem Trend zum Vernetzen über Kamera und Mikrofon nicht wirklich anschließen will: „Es fehlt mir dabei an Echtheit und Emotion, an wahrnehmbaren Gefühlen des Gegenübers, an der Möglichkeit zur unmittelbaren Interaktion. Ich kann virtuell niemanden in den Arm nehmen oder ihn so ermutigen und trösten, wie das im realen Nebeneinandersitzen denkbar wäre“, erklärt Riehle.

Gleichsam zeige sich, dass die Selbsthilfe als ergänzendes Unterstützungsangebot weiterhin gefragt sei: „Mit der Beratung per Mail habe ich schlussendlich recht gute Eindrücke sammeln können. Zwar kann ich auch da nicht so empathisch auf den Anderen eingehen und ihn an die Hand nehmen. Die Edukation, die Information und die Auskunft aus Sicht eines Betroffenen, der schon viele Jahre mit psychischen Erkrankungen auf dem Buckel hat, gelingt aber problemlos und wird von vielen Hilfesuchenden auch entsprechend geschätzt. Und Seelsorge kann man auf elektronischem Weg durchaus leisten. Sie hat sogar manchen Mehrwert, wenn Worte auf Papier festgehalten sind und immer wieder hervorgeholt werden können. Zwar ist es eine klare Herausforderung, Hilfestellung nicht verbal zu übermitteln, sondern in geschriebene Sätze zu verpacken. Die Zeit, die man sich für eine überlegte und differenzierte Antwort mit Hand und Fuß nehmen kann, wirkt sich aber sicherlich nachhaltig aus“, meint Dennis Riehle.

Insgesamt haben die Anfragen bei seiner Initiative in den letzten Monaten vor allem durch die Nachwehen der sozialen Isolation aus der Covid-Epidemie und die Zukunfts- und Alltagssorgen aufgrund des Krieges und der Teuerungswelle deutlich zugenommen. „Man spürt da eine große Hilflosigkeit, es fehlt an Orientierung und nicht selten an konkreten Konzepten, wie man mit der Vielzahl an Hürden und Konflikten umgehen kann. Die Frage, wie wir uns Resilienz erarbeiten und Lösungen finden können, die uns bei der Bewältigung der sich momentan häufenden Existenznöte einen möglichen Weg weisen, wird mir derzeit doch sehr häufig gestellt. Da haben sich manifeste Angst- und Zwangsstörungen entwickelt, mit denen wir Kontrolle zurückerlangen und Anspannung in uns abbauen wollen. Und auch Depressionen verzeichnen wir in erhöhtem Maß, nicht zuletzt bei Jugendlichen. Allerdings ist das bei all den Zukunftsaussichten, die uns manche Politiker und Wissenschaftler präsentieren, auch keine wirkliche Überraschung mehr“. Riehle plädiert dafür, für mehr Pragmatismus einzutreten, statt Aufgeregtheit und Panik zu verbreiten: „Mit kognitivem Denken und Handeln würden wir unseren erschreckten Seelen einen guten Dienst erweisen. Optimismus tut not!“, so Riehle abschließend.

Die Selbsthilfeinitiative steht bei psychosozialen Fragen, zur Gesundheitsförderung und Erfahrungsaustausch überregional und kostenlos allen Betroffenen und Angehörigen beratend zur Verfügung: www.selbsthilfe-riehle.de.

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