"DER STANDARD"-Kommentar: "Wer zuerst bremst, verliert" von Günther Oswald

US-Präsident Obama wird auch in Zukunft nur kleine Sprünge machen können – Ausgabe vom 2. Jänner 2012

Wien (ots) – Es ist ein unwürdiges Schauspiel, das Demokraten und Republikaner in den vergangenen Monaten abgeliefert haben. Im Streit um das US-Budget agierten sie wie testosterongeladene Jugendliche. Sie fuhren um die Wette auf den Abgrund zu. Nach dem Motto: Wer zuerst bremst, verliert. Trotzdem wissen natürlich beide Seiten, dass sich der andere nicht in den Tod stürzen will und wird. Der vorläufige Kompromiss, den die Verhandler im Senat nun über Silvester vereinbart haben, wäre auch schon vor zehn Tagen zu erzielen gewesen, oder auch vor einem Monat. US-Präsident Barack Obama bekommt seine höheren Steuern für Vermögende. Die Konservativen dürfen sich darüber freuen, dass die Mittelschicht weiter niedrige Steuersätze bezahlen wird. Das politische Spiel in Washington wird aber anders gespielt. Die erste Spielregel lautet: Es darf nicht zu einfach sein. Einzelne Republikaner haben zwar nach der neuerlichen Wahlniederlage gegen Barack Obama angedeutet, dass sie in den kommenden vier Jahren eine pragmatischere Rolle einnehmen werden, die Praxis zeigt aber, dass sich am Patt wenig geändert hat und ändern wird. Mangels Mehrheit im Repräsentantenhaus wird Obama auch in Zukunft keine großen Sprünge machen können. Nach dem Hickhack ist also vor dem Hickhack. Was bei dem nunmehrigen Senats-Kompromiss nämlich nicht übersehen werden darf: Bei den Kürzungen auf der Ausgabenseite gibt es in den Details noch keineswegs eine Einigung. Konsens besteht lediglich darin, dass sich die beiden Kontrahenten zwei Monate mehr Zeit geben. Man darf also gespannt sein, ob es beispielsweise beim Schwerpunkt Kürzungen der Rüstungsausgaben bleiben wird. Bei all dem politischen Geschachere, das man selbst in Österreich schwer überbieten könnte, sollte man aber nicht außer Acht lassen: Seine minimale Handlungsfähigkeit hat das US-System bisher noch immer unter Beweis gestellt. Panische Meldungen à la “Die USA werden die ganze Welt in eine neuerliche Rezession schicken” sollten also nicht allzu ernst genommen werden. Können wir uns daher entspannt zurücklehnen und mit Optimismus in die Zukunft sehen? Keinesfalls. Selbst wenn massive Steuererhöhungen für die breite Masse ausgeblieben sind, wird die größte Volkswirtschaft der Welt heuer kaum mehr als zwei Prozent wachsen. Wenn überhaupt. Zu wenig jedenfalls, um für einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu sorgen. Die Rosskur steht den Amerikanern noch bevor, was eine Parallele zu Europa darstellt. Selbst wenn wieder halbwegs passable Wachstumsraten erzielt werden, wird es nicht ein oder zwei Jahre, sondern eher ein Jahrzehnt oder noch länger dauern, bis die Schulden wieder auf ein halbwegs akzeptables Niveau sinken. Die Staatsschuldenquote der Vereinigten Staaten von Amerika ist nämlich in den Jahren nach Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf mittlerweile über 100 Prozent der Wirtschaftsleistung geklettert. Jene der nicht-vereinigten Staaten der Eurozone liegt auch bei deutlich über 90 Prozent. Zur Erinnerung: 90 Prozent ist jene Grenze, die der bekannte US-Ökonom Kenneth Rogoff als historische Pleitegrenze ausgemacht hat. Bis jetzt haben sich die USA also nur Zeit erkauft. Die finanziellen Probleme sind damit längst nicht gelöst.

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   Der Standard, Tel.: (01) 531 70/445 

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