Die Islamisten haben nicht gewonnen – aber auch keine andere politische Partei // Ausgabe vom 19.7.2012
Wien (ots) – Das Wahlergebnis in Libyen macht erst einmal Freude: Ist es schon da, das Ende des Siegeszugs der Islamisten nach dem Arabischen Frühling? Immerhin hat die Parteienliste NFA (Nationale Kräfte Allianz) von Expremier Mahmud Jibril – dem engsten Partner des Westens während des Aufstands – den Wettbewerb um die stärkste Gruppierung gewonnen. Die von den Muslimbrüdern dominierte Partei “Gerechtigkeit und Aufbau” hat nicht halb so viele Mandate erreicht, die Salafisten gar keines. Die 58 Miniparteien, die in der NFA versammelt sind, würden zwar die Bezeichnung “säkular” – auch das medial so beliebte “liberal” – von sich weisen, aber es stimmt: Noch mehr Islam für Libyen steht auf der NFA-Prioritätenliste nicht ganz oben. Die Bezeichnung “moderat” eignet sich ganz gut für Jibrils Bündnis, auch “national” wäre passend, im Gegensatz zu einer weiter gefassten islamischen Agenda – wenn nicht ausgerechnet Jibrils Konkurrenten unter diesem Label eine Koalition zu bilden angekündigt hätten. Und da ist er schon, der erste Schatten, der über dem NFA-Wahlsieg liegt. Denn es ist keine ausgemachte Sache, dass Jibril eine Regierungskoalition schmieden kann. Es wird wahrscheinlich auch keine Regierung der nationalen Einheit geben. Die Muslimbrüder lehnen das ab – und wollen ohne Jibril regieren. Es ist nicht ganz auszuschließen, dass sie das schaffen. Denn nur 80 der 120 Parlamentssitze wurden an Parteien vergeben, und Jibril hat davon 39 gewonnen. Selbst wenn er einige der vielen Kleinstparteien mit einem bis drei Mandaten auf seine Seite zieht, bleiben immer noch die 120 Unabhängigen. Die Muslimbrüder behaupten, die meisten stünden auf ihrer Seite. Sicher ist, dass die Unabhängigen sich ihre Allianz nach ihren eigenen Partikularinteressen – meist lokaler Natur – aussuchen werden. Zuallererst wird der große Kuhhandel ausbrechen, dann werden sich Gruppen formieren, und diese Gruppen werden sehr instabil sein. Allein wenn man sich Jibrils gemischten Haufen ansieht, schleicht sich der Verdacht ein, dass er in dieser Form die Transitionszeit nicht überleben wird. Zwar haben die Islamisten die Wahlen nicht gewonnen: Ihre islamische Identität mussten sich die Libyer nicht bei Wahlen bestätigen lassen, diesmal waren andere Affiliationen – zu einer Stadt, einem Stamm – stärker. Aber das bedeutet nicht, dass eine andere politische Partei gewonnen hätte. Eine stabile politische Landschaft wird sich erst mit der Zeit herausbilden – erst die nächsten Wahlen werden ein Indikator dafür sein, wo die Libyer politisch stehen. Diese Transitionszeit ist entscheidend und gefährlich. Denn für eine schwache Führung wird es noch schwerer sein, dem Staat ein Gewaltmonopol zu verschaffen. Bevor nicht ausgehandelt ist, was jeder bekommt, werden sich die Milizen nicht der Staatsmacht unterstellen. Libyen zu einen ist die größte Herausforderung für die neue Führung. Auch das Schreiben der Verfassung ist damit verbunden: Es gilt das rechte Maß an Föderalismus zu finden, das einerseits den Osten beruhigt, andererseits den Zentralstaat nicht zu sehr schwächt. Der Übergangsrat hat kurz vor den Wahlen beschlossen, dass die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung nicht vom kommenden Parlament, sondern direkt gewählt werden. Das war eine Konzession an die Provinzen, die sich dadurch direkter vertreten sehen sollen. Aber es macht die Sache nicht einfacher.
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